Zusammenfassung/Besonderheiten

Das querformatige Gemälde im Standardformat P 25 zeigt in lichten grünen und blauen Tönen den Blick über eine bewachsene Steilküste auf das weite Meer. Die zweischichtige weiße Grundierung stammt allem Anschein nach vom Künstler selbst (Abb. 6). Ausgehend von einer knappen blauvioletten Skizzierung der Konturen verdichtet van Rysselberghe die Flächen mit dynamisch gesetzten, vielfach durch Verlauf und Richtung die Topographie modellierenden kurzen Pinselstrichen (Abb. 9). Während der Vordergrund noch häufig grundierungssichtige Bereiche zeigt, werden die Farbaufträge zum Himmel hin immer dichter. Im Entstehungsprozess korrigiert van Rysselberghe die Kontur der Steilküste, verändert die Wolken und teilübermalt ein zuvor geplantes Boot (Abb. 8). Die Landschaft entstand auf der Rückseite eines vom Künstler verworfenen Gemäldes, das er großflächig mit weißer Farbe tilgte und es zur weiteren Nutzung umdrehte, seitlich beschnitt und auf den vorliegenden Keilrahmen spannte. Auf der heutigen Rückseite lässt sich mit bloßem Auge nur schemenhaft ein hochformatiges Portrait in Grisaillemalerei erkennen, das mit Hilfe der Infrarotreflektographie sehr viel deutlicher zutage tritt und vermutlich ein Bildnis des belgischen Künstlers und Freundes Constantin Meunier darstellt (Abb. 2,11). Die Ausführung weist eine starke Ähnlichkeit zu zwei weiteren Arbeiten van Rysselberghes auf, die Meunier in gleicher Pose darstellen [Feltkamp 2003, Nr. 1900-007, 1900-015]. Es handelt sich um eine Kohlezeichnung und um eine Grisaille in Öl auf textilem Bildträger, die sich heute im Kröller-Müller- Museum in Otterlo befinden (Abb. 12). Genau wie die Landschaft von Kap Gris-Nez entstanden diese beiden Werke im Jahr 1900 und finden bereits 1901 in einem Brief van Rysselberghes an seinen Freund Octave Maus Erwähnung [Chartrain-Hebbelinck 1966, S. 82-83]. Noch im selben Jahr 1901 nahmen alle drei Arbeiten an der Brüssler Ausstellung „La Libre Estétique“ teil. Es darf vermutet werden, dass der misslungene Erstversuch des Portraits auf der Rückseite von Kap Gris-Nez in engem zeitlichem Zusammenhang mit den beiden weiteren Darstellungen Meuniers entstand und für die gleichzeitige Präsentation der drei Bilder mit dem weißen Anstrich unsichtbar gemacht werden sollte.

Theo van Rysselberghe
Kap Gris-Nez, 1900, Öl auf text. Träger, 65,5 x 81,0 cm, WRM Dep. FC 714

Theo van Rysselberghe

geb. am 23. November 1862 in Gent,
gest. am 13. Dezember 1926 in Saint-Clair, Frankreich

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Weitere Abbildungen:

Abb. 02

Rückseite


Abb. 03

Streiflicht


Abb. 04

UV-Fluoreszenz-Aufnahme


Abb. 05

Detail, Signatur


Abb. 06

Rechter Umspann mit Malrand und deutlichen Spanngirlanden. Die zwei rechten Details zeigen die Grundierung in ihrem zweischichtigen Auftrag (oben) und mit feinen Luftbläschen, die sich bis in die blaue Farbschicht abzeichnen (unten), Mikroskopaufnahmen (M = 1 mm)


Abb. 07

Detail des Vordergrundes, die blauviolette Unterzeichnung bleibt als Kontur der Felsen sichtbar


Abb. 08

Kartierung der Kompositionsänderungen während des Malprozesses mit Details der überarbeiteten Wolken (oben), der Korrektur im Felshang (mitte) und des übermalten Bootes (unten)


Abb. 09

Dynamisch gesetzte, vielfach durch Verlauf und Richtung die Topographie modellierende kurze Pinselstriche


Abb. 10

Aus tieferen grünen oder grün ausgemischten Farbschichten ausgewanderte Substanz, Mikroskopaufnahmen (M = 1 mm)


Abb. 11

Rückseite Grisaillebemalung mit dem Portrait Constantin Meuniers in UV-Anregung (links) und im Infrarotreflektogramm (rechts)


Abb. 12

Théo van Rysselberghe, Studie für das Portrait von Constantin Meunier, 1900, Öl/textiler Träger (Grisaille), 100 x 81 cm, Kröller-Müller Museum, Otterlo